Fachartikel zum Thema Messiesyndrom
Veröffentlicht in der Zeitung „Forum Sozial“ des Deutschen Berufsverband für soziale
Arbeit e. v. Ausgabe April 2008
Im Chaos werden Rosen blühen – Das Messiephänomen
Das Thema Messie-Syndrom ist erst seit kurzer Zeit ins öffentliche Interesse gerückt. Dementsprechend hoch ist das Informationsdefizit. Viele Berichte in den Medien stellen die skandalösen Aspekte wie Vermüllungsszenarien und Verwahrlosung in den Vordergrund. In meiner Arbeit als Messieberaterin liegt daher – neben der gezielten Hilfe für Betroffene – ein Schwerpunkt auf der Aufklärung über das Thema in Form von Vorträgen, insbesondere aber auch durch Fort- und Weiterbildungen für Fachkräfte, die in ihrem beruflichen Alltag mit dem Phänomen konfrontiert sind. Im Folgenden möchte ich die wesentlichen Aspekte des Messie-Syndroms sowie das therapeutische Konzept der Beratungsarbeit darlegen.
Das Messie-Syndrom
Für die meisten Menschen ist ein schönes Zuhause ein Grundbedürfnis. Ordnung zu halten fällt jedoch manchen über die Maßen schwer. Wenn in der eigenen Wohnung dauerhaft chaotische Zustände herrschen, alles drunter und drüber liegt und nichts an seinem Platz ist, dann kann man diese Struktur als Messie-Phänomen bezeichnen. Das Wort „Messie“ leitet sich vom englischen „mess“ her (Unordnung, Durcheinander).
Das Messie-Phänomen umfasst jedoch weit mehr als die sichtbare Unordnung. Diese verweist auf belastende innere Strukturen und wird meist auch begleitet von einer Vielzahl psycho-emotionaler Befindlichkeitsstörungen: so leiden Messies häufig unter Entscheidungsschwierigkeiten, verspüren undefinierbare, lähmende Ängste, empfinden große Anspannung mit hohem Stresspegel, wenn vertraute Situationen sich um sie herum verändern, können kaum Prioritäten setzen, verlieren sich in Details, fühlen sich ambivalent und zerrissen und haben den Zugang zu ihrer eigenen Würde verloren. Ein Leben in permanentem Chaos macht Angst, erzeugt Stress und das Gefühl von Inkompetenz. Die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ist blockiert.
Häufig sind die Betroffenen gesellschaftlich und beruflich sehr engagiert und erfolgreich, wodurch die Unzufriedenheit mit der privaten Lebenssituation in gewissem Maße kompensiert werden kann. Gleichzeitig neigen sie jedoch aufgrund einer zu schwach ausgeprägten Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse dazu, sich selbst zu überfordern. Dies führt zu anhaltenden Stresszuständen und häufig auch zu psychosomatischen Reaktionen, die auf medizinischem Wege nur unzulänglich behandelt werden können.
Vom Messie-Syndrom betroffen sind zuweilen auch Menschen, die nicht unter äußerlich sichtbarem Chaos, sondern unter ihrer innerlichen Strukturlosigkeit leiden. Sie befinden sich in einem „inneren Messiezustand“, das heißt sie empfinden permanenten Druck und Zerrissenheit, fühlen sich entscheidungsunfähig und gelähmt. Dieses innere Chaos gilt es – ebenso wie das äußere Chaos – zu erkennen, zu bewältigen und in aktiv gestaltende Lebensenergie umzuwandeln.
Meine Arbeit als Messie-Beraterin
Auf den Stationen meines beruflichen Weges als Altenpflegerin, Lehrerin in der Altenpflegeausbildung, später als Erzieherin in der Jugend- und Heimpädagogik und ebenso als Leitende Mitarbeiterin in einer Psychoanalytischen Klinik bin ich dem Messie-Phänomen in unterschiedlichsten Ausprägungen begegnet, lange bevor ich wusste, dass es die Definition eines solchen Phänomens überhaupt gibt.
Auf diesen persönlichen Erfahrungen sowie vielfältigen wissenschafltlichen Erkenntnissen über die Zusammenhänge von Chaos und Unordnung basiert das Konzept meiner beraterischen und therapeutischen Tätigkeit, die ich seit mehreren Jahren in eigener Praxis ausübe. Grundlage meiner Arbeit ist die Überzeugung, dass Befreiung von chaotischen Strukturen eine Hinwendung zur eigenen Geschichte, zum Kern und Ursprung unseres Selbst erfordert, zu der tief verborgenen Wunde, einer alten Verletzung, die wir schützen wollen und die unbewusst unser Leben bestimmt, solange sie nicht wirklich geheilt wird. Hinter dem Chaos verbirgt sich immer kreatives, lebendiges Potenzial. Die „positive Absicht“ hinter dem, was von außen betrachtet als Unfähigkeit und mangelnde Disziplin erscheint, gilt es aufzuspüren und freizulegen. Darin liegt der Schlüssel zur Auflösung der lähmenden und scheinbar unbewältigbaren Zustände. Wie dieser Prozess sich in der Praxis darstellen kann, zeigt folgendes Fallbeispiel:
Fallbeispiel 1
Frau S., von Beruf Familientherapeutin, kam zu mir mit dem Wunsch, endlich ihre Wohnung aufzuräumen, und der Bitte um praktische Unterstützung. Seit Jahren litt sie unter Bergen von Papier, die ihre Räume blockierten und derer sie einfach nicht Herr werden konnte. Mit praktischen Handreichungen und Strukturierungshilfen versehen machte sie sich ans Werk, jedoch ohne Erfolg. Sie nahm an einer Jahresgruppe teil, die sich regelmäßig vierzehntägig traf. Trotz anfänglich hoher Motivation, ihre Probleme in den Griff zu bekommen, befand sie sich in einem Zustand starker Lähmung und Unbeweglichkeit, der sich auch in der Gruppe zeigte. Nur sehr langsam und zögerlich waren im Laufe der Zeit kleine Öffnungen und Veränderungen spürbar, vorherrschend war eine depressive und blockierte Grundhaltung. Nach drei Monaten erwähnte sie beiläufig, die ganzen Papiere, die sich in ihrer Wohnung angesammelt hatten, seien „Zettel mit Namen und Notizen, nie abgeschickte Briefe an Verwandte mit Fragen zum eigenen Stammbaum und der Familiengeschichte, ungeöffnete Antwortschreiben…“ Da wurde ich hellhörig, und auf intensives Nachfragen gab sie an, sie habe vor langer Zeit (vor 20 Jahren) einmal ihre Familiengeschichte aufschreiben wollen. Es zeigte sich, dass ihre Familie über Generationen von Migration geprägt war. Diesem Thema hatte sie sich widmen wollen und hatte immer wieder zu Recherchen angesetzt. Überdeckt war dieses Vorhaben jedoch von jahrelanger, bleierner Lähmung, und auch als es jetzt ins Gespräch kam, war nichts zu spüren von dem lebendigen Impuls, der diesem Plan sicherlich einst innegewohnt hatte. Ein Funke davon hatte jedoch durchgeschimmert, und so ergriff ich die Gelegenheit, diesem Raum zu geben. Gemeinsam mit den anderen Teilnehmern inszenierten wir eine Situation, in der dieser ungelebte Teil ihres Lebens eine Bühne bekommen sollte: Wir waren Zuschauer der Fernsehshow „Menschen, Länder, Abenteuer“, Frau S. war der Stargast, der sich vorstellte unter dem Thema „Mein Weg zur erfolgreichen Schriftstellerin“. Durch diesen gestalttherapeutischen Ansatz war ihr plötzlich die Möglichkeit gegeben, ihre bisher nicht wahrgenommenen oder unterdrückten Facetten in eine Präsenz zu bringen. In bisher ungeahnter Lebendigkeit und gleichzeitiger Selbstverständlichkeit schilderte sie ihren (fiktiven) Weg zur Schriftstellerin, beschrieb die Inhalte ihres Buches und wie sie die ganzen Informationen beschafft hatte, und selbst ein Titel wurde mit Hilfe der ZuschauerInnen gefunden. Sie sonnte sich in der Bewunderung ihrer Zuschauer und zugleich in dem unerwarteten Aufbrechen ihrer Blockaden. Sie hatte die Lähmung durchbrechen können und durch Aktivität und Bewegung in einer fiktiven Situation eine tiefe eigene Wahrheit erkannt.
Das Chaos in ihrer Wohnung, das Frau S. so verzweifelt zu beseitigen versuchte, hatte die sinnvolle Funktion, ihren verschütteten Plan lebendig zu halten. Welch wertvoller Schatz wäre verloren gegangen, hätte man den ganzen „Müll“ in einem Container versenkt! Nun, da der Hintergrund ihres Messie-Problems freigelegt worden war, hatte sie die freie Wahl, was mit den angesammelten Papieren geschehen sollte. Sie entschied sich dafür, ihr Vorhaben wieder aufzunehmen und ihm den gebührenden Platz in ihrem Leben einzuräumen. Sie kaufte sich einen Computer, gab die ganzen gesammelten Daten ein und brachte das Buch auf den Weg.
So wie Frau S. kommen viele meiner KlientInnen aus eigener Motivation in meine Vorträge und Seminare. Sie bringen häufig eine akademische Bildung und einen hohen Grad an Selbstreflexion mit. Mit ihnen ist es sowohl in der Einzelberatung als auch in der Gruppe möglich, erfolgreich mit gestalttherapeutischen Elementen zu arbeiten. Tief liegende Widerstände und Blockaden können im aktiven Handeln besser erreicht und in die Gestalt gebracht werden, als es ausschließlich über das Medium Gespräch möglich wäre. Durch die hohe Introspektionsfähigkeit dieser Betroffenen kann das eigene Erleben und Denken anschließend auf der Meta-Ebene mit Distanz betrachtet und reflektiert werden. Festgefahrene Strukturen kommen in Bewegung und können so allmählich aufgebrochen werden. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt hier in der direkten Kommunikation mit dem Klienten, gegebenenfalls unter Einbeziehung direkter Angehöriger, Partner oder Kinder.
Im Gegensatz hierzu wird ein weiterer Teil meiner Klientel durch Institutionen wie Diakonie- und Sozialstationen, Gesetzliche Betreuer, Gemeindepsychiatrischer Dienst oder Mitarbeiter der Sozialämter vermittelt. In diesen Fällen greift ein anderer Behandlungsansatz, der stets versucht, alle beteiligten Institutionen, Fachkräfte und Betreuungspersonen beispielsweise in Form von regelmäßigen Round-Table-Gesprächen mit einzubeziehen. Daran nimmt selbstverständlich auch der/die Betroffene teil. In der Regel ist es erforderlich, vor der Konzentration auf innerpsychische Konstellationen die äußere Lebenswirklichkeit der Betroffenen genau zu betrachten. Die Kostenübernahme erfolgt in der Regel im Rahmen der Wiedereingliederungshilfe.
Drei Bausteine: Stützen, schützen, motivieren
Wenn Menschen – aus welchen Gründen auch immer – nicht in selbstbestimmten Umständen leben, steht das Messiephänomen häufig im Zusammenhang mit ihrer konkreten Lebenssituation. Ist diese beispielsweise geprägt von Überforderung, Selbstvernachlässigung oder gar Verwahrlosung, muss zuallererst nach stützenden Hilfsmöglichkeiten gesucht werden, sei es durch Nachbarschaftshilfe, Hilfe bei der Körperpflege, oder Einsätze der Diakonie- und Sozialstation. Hier beinhaltet die Messieberatung die Koordination der in Frage kommenden Institutionen. Ebenso kann es aber auch zur Aufgabe werden, die persönliche Interessen und Bedürfnisse der Betroffenen gegenüber den Institutionen und Betreuern zu schützen und zu vertreten. Ein Klient hatte sich zum Beispiel über lange Zeit hinweg geweigert, sich duschen zu lassen – aufgrund einer psychiatrisch bedingten Überempfindlichkeit der Haut empfand er den Duschstrahl als unerträglich. Mithilfe eines anderen Duschkopfs war das Problem einfach zu beheben, es musste jedoch erst einmal der Blick weg von der Verweigerung auf das enstzunehmende Bedürfnis des Patienten gerichtet werden. Den dritten Baustein bildet die motivierende, auf positive Veränderungen im Verhalten der KlientInnen ausgerichtete Arbeit. Häufig bilden eingefahrene Verhaltensmuster den Grundstock für anhaltende Konflikte mit der Familie oder Betreuungskräften. Dahinter steht oft die Überzeugung, auf eine bestimmte Rolle festgelegt zu sein. Hier können in kleinen Schritten Handlungsalternativen vorgeschlagen und ausprobiert werden.
Möglicherweise ist jedoch, wenn ein Messie sich aufgrund von externer Motivation auf eine Beratung einlässt, der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen, obwohl von außen betrachtet dringender Handlungsbedarf besteht. Diese Situation soll das folgende Fallbeispiel illustrieren:
Fallbeispiel 2
Frau R., Mutter dreier Kinder in einem kleinen Ort im Nordschwarzwald, wurde vom Sozialamt zu mir vermittelt. Durch anhaltende Verhaltensauffälligkeiten der Kinder war das Jugendamt auf die Familie aufmerksam geworden und hatte eine Wohnung vorgefunden, die nach üblichen Maßstäben nicht bewohnbar schien. Kein Raum hatte eine eindeutige Funktion, es herrschte unüberschaubares Chaos, wenn auch die hygienischen Zustände akzeptabel waren. Die größeren Kinder waren aus dem Haus, der Jüngste mit 12 Jahren wurde aufgrund der stark gestörten Beziehung zwischen Mutter und Sohn in einem Heim untergebracht. Frau R. lebte in starker Isolation, ohne Telefon, ohne soziale Kontakte, ihre Post blieb ungeöffnet liegen. Sie litt unter Zwängen und paranoiden Zuständen und wurde deshalb psychiatrisch behandelt. Zu dem Jungen, dessen Heimunterbringung sie als feindseligen Akt verstand, verweigerte sie den Kontakt, wünschte sich jedoch, ihn wieder bei sich zu haben. Dies wurde ihr vom Jugendamt in Aussicht gestellt, wenn sie es schaffte, ihre Wohnsituation zu verbessern. Dazu wurde ihr als ersten Schritt ein Basisseminar bei mir finanziert, und so lernte ich Frau R. kennen. Der Besuch dieses Wochenendseminars war eine große Herausforderung für sie: Sie musste sich aus ihrer selbst gewählten Isolation wagen, alleine mit Zug und Bus anreisen und sich auf fremde Gruppenmitglieder einlassen, die ein ganz anderes Bildungsniveau mitbrachten. Dies war jedoch ein erster und wichtiger Schritt aus ihrer Erstarrung und Unbeweglichkeit, die sich auch in ihrem starken Übergewicht ausdrückte. Belohnt wurde sie durch die Wertschätzung durch die anderen Teilnehmer, und durch die überraschende Erkenntnis, dass viel gebildetere und weltgewandtere Menschen mit den selben Problemen zu kämpfen hatten wie sie. Eindrücklich war eine Körperspürübung, bei der es darum ging, Nähe und Distanz zu anderen selbst zu bestimmen. Diese Akzeptanz der eigenen Grenzen war für sie, die in ihrem Leben viel Gewalt erfahren hatte, eine neue Erfahrung.
Nach diesem Wochenende war Frau R. bereit, sich wöchentlich mit mir in den Räumen des Sozialamtes zu treffen und gemeinsam an ihrer Messie-Problematik zu arbeiten. Die Kostenübernahme wurde über die Eingliederungshilfe geregelt, und so arbeiteten wir etwa ein halbes Jahr zusammen, eine Zeit, in der es vorrangig darum ging, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Frau R. öffnete sich mehr und mehr, konnte die Trauer über den Verlust ihres Kindes erkennen und ausdrücken, auch wenn sie immer noch „das Amt“ dafür verantwortlich machte. Meine Loyalität gegenüber den Mitarbeitern des Landratsamts zeigte ich ihr offen, akzeptierte jedoch stets auch ihre Empfindungen, so dass es mir gelang, in der Vermittlerposition zwischen Klientin und Amt nicht zum Spielball zu werden. Mein Auftrag war laut Hilfeplan neben der Verbesserung der Wohnsituation auch, ihre Bereitschaft zum Kontakt mit ihrem Sohn positiv zu beeinflussen, dies wurde von ihr jedoch strikt verwehrt.
In den Gesprächen über ihre Wohnsituation ging es um grundlegende Fragen: Was bedeutet Wohnen für mich? Wie möchte ich eigentlich leben? Was sind meine grundlegenden Bedürfnisse? Im Laufe dieser Gespräche zeigte sich deutlich, dass Frau R.s Wahrnehmung ihrer Wohnsituation stark von derjenigen des Sozial- und Jugendamtes abwich. Während die Wohnung unter „normalen“ Maßstäben als unbewohnbar erschien, schilderte sie lediglich, dass eben einige Dinge nicht an ihrem Platz lägen… Sie litt nicht unter dem Chaos und hatte infolgedessen auch kein Bedürfnis, etwas zu verändern. Ihre Motivation, sich auf dieses Thema einzulassen, bestand einzig darin, ihren Sohn wiederzubekommen
Parallel zu diesen wöchentlichen Terminen fanden alle 4-6 Wochen gemeinsame Besprechungen mit Frau R. und den Mitarbeitern des Sozialamtes statt. Das Jugendamt konnte nicht einbezogen werden, da Frau R. ihre Zustimmung nicht erteilte. Die behandelnde Psychiaterin war leider trotz Zustimmung der Patientin nicht zur Teilnahme bereit, was meines Erachtens dringend notwendig gewesen wäre. Im weiteren Verlauf wurde deutlich, wie sehr die Messie-Problematik von psychischen Störungen überlagert wurde: Zeitgleich mit dem Vorhaben, die Arbeit direkt in Frau R.s Wohnung fortzusetzen, hatte sie einen schweren Unfall mit ihrem Motorroller, der mehrere Knochenbrüche zur Folge hatte. Nach einem dreiwöchigen Klinikaufenthalt war Frau R. noch nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen, und wurde vorübergehend in einer Einrichtung für psychisch Kranke untergebracht. Dort fanden unsere weiteren Sitzungen statt, um den Prozess nicht zu lange zu unterbrechen. Aufgrund der starken Unordnung, die sich in ihrem Zimmer in kurzer Zeit einstellte, wurde von der Hausleitung auf die Patientin wie auch auf mich starker Druck ausgeübt, was auf Seiten von Frau R. zu einer zunehmenden Verweigerungshaltung führte, die sie versuchte, durch ihre gesundheitlichen Einschränkungen zu legitimieren. Das Verhältnis zwischen ihr und mir wurde distanzierter, ihre bisherige Offenheit mir gegenüber schlug um in Misstrauen. Als es darum ging, sie bei der Vorbereitung des Umzuges zurück in ihre Wohnung aktiv zu unterstützen, wurde dies durch ihre Zwangsstörung verhindert. Wenn ich ihre Sachen berührte, reagierte sie panisch. Das, was nach außen völlig desorganisiert wirkte, hatte für sie eine schlüssige innere Ordnung, die nicht angetastet werden durfte.
Spätestens hier wäre der Austausch mit der Psychiaterin dringend geboten gewesen. Aufgrund des stark gestörten Verhältnisses stellte ich die wöchentlichen Termine vorerst ein, Frau R. hatte aber großes Interesse, als Fortsetzung des Basisseminar in Kürze an einem Vertiefungsseminar bei mir teilzunehmen. Nachdem sie wieder in ihre Wohnung gezogen war, erreichte mich jedoch ein Brief von ihr, in dem sie mir mitteilte, sie könne am Seminar nicht teilnehmen, da sie zu einer Hochzeit eingeladen sei! Mehr noch als diese Nachricht überraschte mich später die Information, dass Frau R. „abgetaucht“ sei, sie hätte jeden Kontakt zu den Behörden abgebrochen, halte sich nicht mehr in ihrer Wohnung auf, sondern habe sich einer Gruppe von Motorradfahrern angeschlossen und hat dort offensichtlich eine Zugehörigkeit gefunden.
Vordergründig betrachtet war mein Auftrag damit gescheitert. Frau R. hatte nichts an ihrer Wohnsituation geändert und sie hatte keinen Kontakt zu ihrem Sohn aufgenommen. Wenn man jedoch bereit ist, anzuerkennen, dass in Frau R.s Leben eine Hinwendung zur Lebendigkeit und zum Kontakt mit anderen Menschen stattgefunden hat, und sie somit vielleicht ihren individuellen Vorstellungen von einem erfüllten Leben näher gekommen ist, dann wird die Forderung nach einer „ordentlichen“ Wohnsituation möglicherweise zweitrangig.
Dieses Beispiel zeigt, dass das Messie-Syndrom auf vielen unterschiedlichen Ebenen betrachtet und manchmal auch behandelt werden muss. Wenn ein Klient / eine Klientin nicht aus freien Stücken in die Auseinandersetzung mit der Thematik geht, gilt es noch genauer hinzuschauen, was das grundlegende Bedürfnis dieses Menschen in seiner spezifischen Lebenssituation ist. Für alle gilt, unabhängig vom Grad der Bildung und Reflexionsfähigkeit, als oberstes Ziel immer die Anerkennung der jeweiligen Lebenssituation und vor allem der eigenen Geschichte. Ohne die Würdigung der eigenen Biografie und Lebenssituation kann der Prozess der Chaosbewältigung nicht gelingen.
Die eigene Lebenssituation anerkennen
Der therapeutisch wirksame und umfassende Ansatz erfordert als ersten Schritt das Erkennen der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur, die der individuellen Messie-Problematik zugrunde liegt. Dazu wird mit den KlientInnen die Situation in der Ursprungsfamilie und ihre gegenwärtige Lebenssituation herausgearbeitet. Daraufhin lässt sich mit Hilfe eines Konzepts von Sandra Felton (USA) der individuelle Messie-Typ (Sammelmessie, perfektionistischer Messie, reinlicher Messie, Sicherheitsmessie, rebellischer Messie) bestimmen. Die Symptomatik verliert ihre Macht und emotionale Bedrohlichkeit, wenn sie beim Namen genannt werden kann.
Darauf basierend wird ein Konzept entwickelt, das den Betroffenen ermöglicht, Schritt für Schritt das Chaos zu bewältigen und die eigene Würde und Selbstbestimmung wieder zu erlangen. Dieser Prozess lässt sich umschreiben als ein „Weg nach innen, der im Außen sichtbar wird“. Unterstützt durch therapeutische und beratende Hilfestellungen kann sich auf ganz individuelle Weise die Balance zwischen Chaos und lebendiger Ordnung entwickeln.
Im Laufe dieser Entwicklung werden nach und nach die Hintergründe, die ursächlich für einen chaotischen Lebensstil stehen, ebenso wie Einstellungen und Haltungen, die sich hemmend auf das bisherige Leben ausgewirkt haben, sichtbar. Durch diese Vorgehensweise wird der Klient in ein tiefes inneres Verstehen hineingeführt, was die Voraussetzung dafür ist, sich selbst mit seiner Geschichte liebevoll anzunehmen.
Die eigene Würde zurückgewinnen
Als Ergebnis dieser Annäherung finden die Betroffenen wieder Zugang zu ihrer eigenen Würde und Wertschätzung. Sie werden befähigt, Wahlmöglichkeiten zu erkennen, eigene Prioritäten klar zu definieren und Handlungsalternativen zu entwickeln. Bei Bedarf wird gemeinsam mit den Klienten ein Struktur- und Trainingsplan erstellt, der sich an den individuellen Bedürfnissen orientiert.
Dieser therapeutische Prozess kann im geschützten Rahmen der Einzelberatung oder – in Form von Seminaren, Workshops und fortlaufenden Jahresgruppen – im Austausch mit anderen Betroffenen stattfinden. Viele Teilnehmer erleben den Rückhalt in der Gruppe als sehr hilfreich. Die bisherige Isolation wird durchbrochen und sie erhalten wertvolle Impulse und Unterstützung für die eigene Entwicklung. Hausbesuche haben sich als begleitende Maßnahme bewährt, da vor Ort die persönlichen Problemschwerpunkte sichtbar werden und sich aus der vorhandenen Situation angemessene Lösungsstrategien entwickeln lassen. Gegebenenfalls werden auch Partner und Angehörige in die Arbeit mit einbezogen.
Unabdingbar für den Erfolg ist – wie bereits beschrieben – bei Betroffenen, die in einer Betreuungssituation leben, der interdisziplinäre Ansatz, der alle Beteiligten in den Veränderungsprozess mit einbezieht.
Qualifizierung von Fachkräften
Immer noch ist die Meinung weit verbreitet, die Messie-Problematik beschränke sich auf das Symptom der „Vermüllung“ und den fehlenden Willen zum Aufräumen. Damit wird Betroffenen die Akzeptanz und Würdigung ihrer speziellen Symptomatik vorenthalten. Was ich erreichen will, ist die Anerkennung des Messie-Syndroms als eine von vielen psychischen Erscheinungsformen und eine Sensibilisierung für die zugrunde liegende tiefgreifende Dynamik.
Im Rahmen meiner Tätigkeiten in psychosozialen Institutionen habe ich häufig erlebt, wie Mitarbeiter Menschen mit einer Messie-Symptomatik ohne die erforderlichen Kenntnisse hilflos gegenüberstehen. Ebenso begegnen mir in meiner jetzigen Arbeit als Messie-Beraterin immer wieder Betroffene, die von Mitarbeitern in einem sozialpädagogischen oder therapeutischen Kontext aus Unwissenheit nicht adäquat behandelt werden.
Nur wenn Fachkräfte im Sozial- und Pflegebereich in der Lage sind, ihre Möglichkeiten, aber auch vorhandene Grenzen im Umgang mit einem „Messie“ realistisch einzuschätzen, kann ein adäquater Umgang mit der Problematik und eine vertrauensvolle Beziehung entstehen. Die Grundlage hierfür ist die umfassende Information über die Hintergründe, Ursachen und Auswirkungen des Messie-Syndroms. Aus dem Verstehen heraus erwächst Empathie, die in kompetentes und professionelles Handeln gegenüber den Betroffenen mündet. Die Folge ist eine deutliche Verbesserung der Beziehung zwischen Fachpersonal und Betreuten, und aufgrund der Entlastung im Arbeitsalltag nicht zuletzt eine höhere Zufriedenheit der Mitarbeiter.
Von der Anerkennung des Messie-Syndroms als eigenständigem Störungsbild und dem Zugeständnis von adäquater Unterstützung für die Betroffenen profitieren alle Beteiligten gleichermaßen. Energie, die bisher in fruchtlosen Auseinandersetzungen, Kämpfen und Widerständen verloren ging, kann dann in gemeinsame produktive Arbeit an Entwicklungsmöglichkeiten investiert werden.
Wissenschaftliche Grundlagen:
Die Ursachen und Hintergründe des Messiephänomens sind bisher wissenschaftlich nicht hinlänglich erforscht. Chaotische Zustände wurden bislang lediglich als sekundäre Symptome von psychischen Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen betrachtet. Mit dieser eingeschränkten Sichtweise wird man jedoch der Tragweite und häufig singulären Stellung der Symptomatik nicht gerecht. Um der fehlenden fachlichen Anerkennung des Messie-Syndroms Rechnung zu tragen, wurde auf meine Anregung hin von der Abteilung Psychiatrie und Psychosomatik der Universität Freiburg eine Studie zur Erhebung des Messiesyndroms mit folgenden Fragestellungen initiiert:
– Kann man das Messie-Syndrom als eigenständiges Krankheitsbild eingrenzen?
– Gibt es ein einheitliches Symptombild?
– Wie treten Überlagerungen mit anderen psychischen Erscheinungsformen auf?
– Wie lässt sich die Symptomatik von Störungsbildern wie ADS/ADHS abgrenzen?
– Wie lassen sich unterschiedliche Ausprägungen in einer Typologie klassifizieren?
Auf meine Anfrage hin war die Bereitschaft meiner KlientInnen, an dieser Studie teilzunehmen, sehr hoch. Dies zeigt, wie stark auch von Seiten der Betroffenen das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Anerkennung der Symptomatik als eigenständiges Störungsbild und nicht zuletzt einem gesellschaftlichen Bewußtsein über die Problematik ist.
Die Studie, die seit Anfang 2007 über ca. 2 Jahre läuft, wird von einem Professor der Albert-Ludwig-Universität Freiburg geleitet. Er wird von vier Doktoranden unterstützt, die jeweils ein eigenes Teilgebiet untersuchen.
Meine Mitwirkung umfasste – neben der Vermittlung der TeilnehmerInnen – die Herstellung des notwendigen Praxisbezugs und darauf basierend die Beratung beim Erstellen des Studiendesigns. Meine Arbeit als Messieberaterin wird im Rahmen der Studie von einem der Doktoranden begleitet und auf ihre Methodik und Wirksamkeit hin untersucht.
Veronika Schröter ist examinierte Altenpflegerin/Altenpflegelehrerin, Jugend- und Heimpädagogin, studierte Kunsttherapie und ist derzeit in Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie besuchte diverse Fort- und Weiterbildungen, unter anderem in Gestalttherapie bei Dr. Hildegund Heinl. Seit 2001 ist sie in eigener Praxis in Freiburg als Messieberaterin tätig.
Kontakt: Tel. 0711 – 90 79 75 60, info@veronika-schroeter.de, www.veronika-schroeter.de
Literatur:
Rehberger, Rainer Messies – Sucht und Zwang.
Klett-Cotta 2007 – ISBN 3608890491
Rehberger, Rainer Verlassenheitspanik und Trennungsangst.
Klett-Cotta Verlag 2000 – ISBN 3608896775
Ritter, Thomas Endlich aufgeräumt. Der Weg aus der zwanghaften Unordnung.
Rowohlt Verlag 2004 – ISBN 3499615916
Steins, Gisela Desorganisationsproblem: Das Messie Phänomen.
Papst Science Publishers 2003 – ISBN 38996710094
Felton, Sandra Laß uns das Chaos überleben. Hilfen für Menschen, die mit Messies leben.
Brendow Verlag 1997 – ISBN 3870676760
Felton, Sandra Ohne Chaos geht es auch.
Brendow Verlag 1996 – ISBN 3870676396
Veröffentlich in der Aprilausgabe.2008
In: Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.v.